Second Life – Unternehmen laufen Hype blind hinterher

Web-Marketing-Experte Thomas Gerteis im pressetext-Interview

Die virtuelle Welt Second Life (SL) ist derzeit in aller Munde. Kaum ein Medium hat den Hype rund um Second Life noch nicht thematisiert. Und auch die Unternehmen haben das virtuelle Paralleluniversum längst für sich entdeckt und versuchen Profit daraus zu schlagen. Doch was steckt wirklich hinter der boomenden Popularität und wie viel wird am Ende tatsächlich übrig bleiben? pressetext sprach mit dem Web-Marketing-Experten Thomas Gerteis, CEO von Global Media, über Fehler von und Chancen für Unternehmen in Second Life.

pressetext: Herr Gerteis, Sie beraten unter anderem auch Firmen, die den Schritt in die virtuelle Welt gewagt haben. Was sind die häufigsten Fehler, die Unternehmen begehen, wenn sie in Second Life aktiv werden?
Gerteis: Was derzeit geschieht, ist ein extremer Hype. Entsprechend schnell werden Unternehmen nervös, wenn sie etwas darüber lesen und sie wollen unbedingt auch dabei sein. Man kann also sagen, hier gibt es einen starken Nachahmer-Effekt. Ein Fehler, der nun begangen wird, ist, dass kaum Research betrieben wird. Denn als Werbekanal selbst ist SL im Augenblick gar nicht so geeignet. Schaut man sich die Fakten an, sieht man, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur zwischen 20.000 und 25.000 User online sind und das ist eigentlich eine extrem geringe Zahl. Da relativiert sich ganz schnell die Power von so einem Kanal. Der typische Fehler, der gemacht wird, ist, dass nicht genug analysiert wird. Viele gehen einfach rein, weil sie ein Stück von dem Medienhype haben wollen. Begnügt sich ein Unternehmen damit, so ist das natürlich in Ordnung, geht es aber tatsächlich um Präsenz bzw. was man vermitteln will, so bedarf es viel mehr Research. Allerdings werden dahingehend von SL derzeit noch sehr wenige Informationen bereitgestellt.

pressetext: Also, was sollten die Unternehmen Ihrer Meinung nach machen, um Second Life erfolgreich zu nutzen?
Gerteis: In letzter Zeit wurde von vielen Seiten sozusagen schnell geschossen. Die Unternehmen haben nicht genau recherchiert. Man sollte sich aber klar darüber sein, wen man erreichen will und was man als Unternehmen überhaupt darstellen kann. Funktioniert es überhaupt, die Produktpalette oder ein bestimmtes Serviceangebot darzustellen. Die Unternehmen sollten nicht nur blind hinterher rennen. Ich glaube aber, dass sich das momentan auch schon wieder relativiert.

pressetext: Für welche Unternehmen eignet sich Second Life grundsätzlich als Werbeplattform und welche Branchen sollten lieber die Finger davon lassen?
Gerteis: Der Knackpunkt ist, dass es momentan noch keine akkuraten Daten über SL gibt. Gäbe es genauere Daten, wäre eine Aussage dahingehend natürlich einfacher. Aber um ein Beispiel herauszugreifen: Für Finanzdienstleister ist es schon allein aufgrund der rechtlichen Aspekte schwierig, sich in der virtuellen Welt zu bewegen. Vor allem aber weiß eine Bank in SL zum Beispiel nie, wen sie gerade avisiert, handelt es sich um einen deutschen User oder um einen amerikanischen – das wird für die Bank nicht ersichtlich. Daher reduziert sich eine Präsenz in SL derzeit auf eine Werbebotschaft in Form von „hier sind wir, wir sind im Web 2.0 dabei“. Aber ein konkretes Produkt – gerade in der Finanzdienstleistung – anzubieten ist tricky. Momentan zählt mehr das Branding. Das aber auf E-Commerce herunter zu brechen, davon sind wir noch weit entfernt. Jeder, der das derzeit versucht, lässt es ganz schnell wieder fallen, weil die Resultate extrem ernüchternd sind.

pressetext: Würden Sie nun generell sagen, dass Second Life überbewertet wird oder steckt dahinter wirklich Potenzial?
Gerteis: Es hat Potenzial, aber das gilt generell für alle Web-2.0-Angebote. Der letztendliche Punkt, wie sich so etwas kommerziell verwerten lässt, ist noch nicht gefunden. Momentan halte ich es in der Tat für überbewertet. Es ist eine interessante Spielwiese, aber eine Plattform mit 20.000 Usern ist für einen großen Werbekunden eigentlich irrelevant. Aber dennoch ist der Werbehype da. Man muss abwarten und in einem Jahr sehen, wie sich die Situation entwickelt.
Ich glaube, dass virtuelle Welten auf jeden Fall ein großes Potenzial haben. In Asien gibt es auf diesem Gebiet bereits viel weiter entwickelte Beispiele. Dort findet man einen viel stärker fragmentierten Markt. Es gibt nicht eine virtuelle Welt, sondern viele verschiedene – eine für Technik, eine für Sport, eine für Hobbies und so weiter. Das ist dann auch für Werber eine schönere Geschichte, weil sie eine absolute Target-Group vorfinden, ein spezialisiertes Publikum. In Second Life hingegen sind die Streuverluste sehr groß. Viele Unternehmen wissen oft gar nicht, was sie genau tun sollen.

pressetext: So schnell der Hype um Second Life entstanden ist, so schnell scheint sich aber auch Enttäuschung bei den Unternehmen breit zu machen. Wie sehen Sie das?
Gerteis: Die Leute kommen völlig übermotiviert in Second Life hinein. Viele kommen, weil sie denken, sie verpassen sonst etwas. Und dann stellen die Unternehmen häufig plötzlich fest, dass sie eigentlich gar nichts verkaufen bzw. zu wenig verkaufen. Zudem gab es in letzter Zeit auch einiges an negativer Presse über SL. Wenn beispielsweise von Kinderpornografie die Rede ist, dann verabschieden sich große Brands natürlich ganz schnell wieder.

pressetext: Fürchten die Unternehmen um ihr Image bzw. welchen Einfluss hat SL generell darauf?
Gerteis: Einerseits bekommen Firmen in Second Life das Image der Innovationsführung – wie vorhin angesprochen nach dem Motto „Dabei sein, wo etwas Neues passiert“. Andererseits gibt es eben die angesprochenen Schattenseiten. Dabei spielt auch die Anonymität solcher Plattformen eine Rolle, weil man nicht nachvollziehen kann, mit wem man es tatsächlich zu tun hat. Und natürlich, sobald Dinge wie Kinderpornografie oder andere negative Seiten – etwa Gewalt – ins Spiel kommen, wird es für die Unternehmen gefährlich. Momentan gibt es quasi ein gespaltenes Image. Wobei allein die Tatsache, dass diese Schattenseiten überhaupt hervorgetreten sind, sich sehr negativ auswirkt. Es wäre besser gewesen, die heile Welt hätte weiter existiert. Darum weiß ich auch nicht, ob SL die letztendliche Spielform bleiben wird. Ich denke, es werden viele andere kommen, die dann auch aus den Fehlern von Second Life lernen werden. Zum Beispiel, dass Sicherheitssysteme eingezogen werden, damit so was nicht mehr passiert. SL ist momentan als Unternehmen und als Organisationsform komplett überrannt. Die Organisation selbst muss noch stark wachsen.

pressetext: Ausgehend von idealen Bedingungen, wie soll sich ein Unternehmen innerhalb von Second Life bewegen und damit umgehen?
Gerteis:
Ich würde Unternehmen immer die Empfehlung geben, zu einer Agentur zu gehen, die sich damit auskennt. Fakten sammeln, alles auf ein neutrales Niveau bringen und abklären, ob man als Unternehmen überhaupt da hinein will und welche Erwartungen man hat. Es geht hauptsächlich um Branding. Also muss überlegt werden, wie stelle ich mich dar, wie groß mache ich meinen Auftritt, wie groß gestalte ich den Medienhype drumherum. Wichtig sind zunächst die ganz normalen Skalierungsfragen, die abhängig sind vom Budget und dem Willen der Company, das alles ernsthaft zu betreiben.

pressetext: Können in SL Zielgruppen erreicht werden, an die ein Unternehmen sonst nur schwer herankommt?
Gerteis: Ich vermute es. Aber wie gesagt, haben wir nur wenige Informationen über soziodemographische Daten. Wenn man sich SL heute ansieht, dann muss man einen Durchschnitt wie in der normalen Bevölkerung annehmen. Da sind auch Randgruppen mit dabei, in welcher Dimension, das kann man derzeit nicht beantworten.

pressetext: Wie kann der Erfolg in SL überhaupt nachgewiesen bzw. gemessen werden? Kann ein Unternehmen überblicken, ob es die richtigen Maßnahmen getroffen hat?
Gerteis: Man kann den Erfolg messen. Zunächst liefert Second Life immerhin die Daten darüber, wie viele User sich im Durchschnitt zu einer bestimmten Zeit auf der Plattform befinden. Zahlen darüber, wie viele Leute gerade an einer bestimmten Insel oder einem bestimmten Shop vorbeigehen, werden derzeit noch nicht geliefert. Da muss man dann schon sehr stark herunter brechen. Wenn es um Werbebotschaften geht, die durchgeklickt werden können, dann zählen natürlich die üblichen Tracking-Methoden. Man kann in jedes Werbemittel einen Tracker einbauen, der dem Unternehmen dann sofort nach einem Klick die betreffenden Informationen übermittelt.

pressetext: Welche Prognose würden Sie nun in Anbetracht aller besprochenen Komponenten für die Zukunft von SL abgeben?
Gerteis: Das Medium Virtuelle Welten ist generell – auch abseits von SL – sehr interessant. Wir bei Global Media glauben aber daran, dass es in Zukunft stärker fragmentiert sein wird und dass es themenspezifische Welten auch in Europa geben wird. Dann kommt es auch auf den Betreiber an, wie professionell die Plattform geführt wird, welche Daten er zur Verfügung stellen kann. Man muss dem Werber diese Rahmenbedingungen geben. Noch sind wir in den Kinderschuhen, aber die Halbwertszeiten in dem Medium sind kurz. Wir sprechen hier also nicht von Jahren, sondern ich denke, dass sich in den nächsten zwölf bis 24 Monaten sehr viel tun wird.

pressetext: Vielen Dank für das Gespräch (pressetext.deutschland, München, 19.05.2007).